Wunderblock No. 27 – Zur Tiefe der Oberfläche
- Ort Projektraum alte feuerwache, Marchlewskistr. 6, 10243 Berlin Friedrichshain
- Datum/Uhrzeit Freitag, 28. September 2018, 19:30 Uhr
Bei unserem 27. Wunderblock-Abend, der im Projektraum alte feuerwache stattfinden wird, gehen wir mit der Kulturwissenschaftlerin und Autorin Jutta Person der wechselhaften Geschichte der Physiognomik nach, die die Jahrhunderte überdauert hat, weil sie, so scheint es, gegen alle Vernunft einem ursprünglichen menschlichen Bedürfnis entspricht.
»Keine Kunstfertigkeit hilft, um die Deutung der Seele im Gesicht zu finden.«
William Shakespeare, Macbeth
Als Physiognomik wird eine seit der Antike bestehende Theorie bezeichnet, die versucht, Wesenszüge der Persönlichkeit in der äußeren Gestalt abzulesen und systematisch zu begründen. Das Konzept scheint einleuchtend, denn im Alltag sind wir alle Physiognomiker. Eine besondere Konjunktur erlebte die Physiognomik im 18. und 19. Jahrhundert, wurde aber auch damals schon scharf kritisiert und in der Folge als unwissenschaftlich verworfen. In jüngerer Zeit hat sich der Philosoph Gernot Böhme mit der Physiognomik auseinandergesetzt und sie nicht mehr als Ausdrucklehre eines inneren Wesens gedeutet, sondern die Kraft der Physiognomie im Eindruck gefunden, den eine Gestalt auf einen Betrachter macht (Böhme 2013). In diesem Zusammenhang rückt für Böhme auch die Physiognomie von Tieren, Landschaften und Dingen in den Fokus. Neue Gesichtserkennungstechnologien scheinen hingegen den antiken Vorstellungen treu zu bleiben, wie ein Artikel im Guardian zeigt, in dem über Algorithmen berichtet wird, die eine homosexuelle Neigung auf Basis von Fotografien mit einer Genauigkeit von einundneunzig Prozent bestimmen können (hier). Nachdenklich stimmt auch die aktuelle Konjunktur der Physiognomik in der Wirtschaft, wo man sich erhofft, die Fähigkeiten von Bewerbern nach physiognomischer Analyse beurteilen oder die wahren Absichten des Geschäftspartners aus Erscheinung und Mimik ablesen zu können.
Jutta Person, freie Literaturkritikerin und Kulturwissenschaftlerin, wurde 1971 in Südbaden geboren und lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Italianistik und Philosophie in Köln und Italien, 2004 Promotion an der Universität zu Köln mit einer Arbeit zur Geschichte der Physiognomik im 19. Jahrhundert (Titel der Dissertation: Der pathographische Blick. Physiognomik, Atavismustheorien und Kulturkritik 1870-1930). Sie schreibt für die Süddeutsche Zeitung, Die Zeit und das Philosophie Magazin. Von 2004 bis 2007 war sie Sachbuchredakteurin bei der Zeitschrift Literaturen, seit 2011 betreut sie als Redakteurin das Ressort Bücher beim Philosophie Magazin. 2012 war sie Mitglied in der Jury des Deutschen Buchpreises. 2013 veröffentlichte sie das Tierporträt Esel in der Naturkunden-Reihe des Matthes & Seitz Verlags. 2017 und 2018 war sie Mitglied der Jury des Preises der Leipziger Buchmesse. Zur Zeit arbeitet sie an einem Tierporträt über Korallen.