Zu Gast ist Dr. Wolfgang Ullrich, Kunst- und Kulturwissenschaftler –
im Gespräch mit Andreas Rauth und Marc Schweska

Nicht nur Ai Wei Weis Rettungswesten-Säulen für das Berliner Konzerthaus am Gendarmenmarkt oder die umstrittene Aktion »Flüchtlinge fressen« des Zentrum für politische Schönheit belegen das Interesse von Künstlern an dem Thema Flucht und Geflüchtete. In sämtlichen Sparten, von der Aktionskunst über Installation und Theater bis hin zum Kinderbuch entwickeln Künstler Konzepte zur Integration von Geflüchteten1), reflektieren die politische Situation und setzen sich mit individuellen Schicksalen auseinander.

Bei diesem ebenso aktuellen wie sensiblen Thema stellt sich die Frage nach den Mitteln und Methoden mit besonderem Nachdruck. Kann Kunst hier überhaupt angemessen reagieren und ihre viel beschworene integrative Kraft entfalten, oder ist ein Scheitern schon vorprogrammiert? Ist das Thema Kunst und Geflüchtete ein Prüfstein für die Kunst?

Einerseits scheint die alte Verbindung des Ästhetischen mit dem Ethischen der Kunst hier geradezu ein Vorrecht einzuräumen. Doch sind die Bedingungen, unter denen sich das Schöne mit dem Guten als Ideal gesteigerter Lebensform empfahl, längst durch die Erosionsrinnen der Geschichte abgeflossen. Dafür hat sich aber der mit Beginn der Moderne neu entstandene Schulterschluss mit dem Anderen – und damit dem Kern des Flüchtlingsthemas – als die vielleicht fruchtbarste Allianz im Verlauf des neunzehnten, zwanzigsten und beginnenden einundzwanzigsten Jahrhunderts erwiesen, die der Kunst zudem eine neue moralisch-politische Grundierung verliehen hat.

Im Ausgeschlossenen, Verstoßenen und Abseitigen, im Schmutzigen und Hässlichen, in den Resten, im Überschuss und Abfall erkennt die Kunst seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ihre wichtigstes Material. Es genügt an dieser Stelle zwei, drei Namen zu nennen: Charles Baudelaire, der den Dichter mit einem Lumpensammler verglich, Kurt Schwitters, der aus den Trümmern Berlins am Ende des Ersten Weltkriegs seine MERZ-Kunst schuf, oder Dieter Roth, der rastlose Universalkünstler, dessen Große Tischruine (1978–1998) das schon bei Schwitters zu beobachtende Wuchern besonders eindrücklich vor Augen führt.

Indem sie immer wieder auf die Dimensionen des Anderen in unserer Gesellschaft hinweist, wirkt Kunst häufig verstörend. Wo sie gerade das abzubilden bzw. aufzuzeigen vermag, was nicht anerkannt und konsensfähig ist, sogar was sie selbst nicht ist, nämlich schön, verliert sie ihren einschläfernden, betäubenden Charakter und fördert stattdessen Aufmerksamkeit und Wachheit. Kunst, die für das Andere steht, übernimmt eine wichtige gesellschaftliche Funktion, indem sie sichtbar macht, was durch normative Gewalt marginalisiert und verdrängt wird.

Nun ist das Thema Flucht und Migration ohnehin so polarisierend, dass eine zusätzliche Spaltkraft das allerletzte ist, was man sich hier wünscht. Hat aber die Kunst durch Parteinahme für das Andere ihre übergreifende sinnstiftende Kraft, ihre Fähigkeit, Geborgenheit und Wärme zu geben, eingebüßt? Ist jener unbestreibare Vorzug von Kunst, nämlich Ausdruck von Empathie zu sein sowie empathische Fähigkeiten im Menschen zu fördern, in der Moderne verloren gegangen? Ist sie sich in gewisser Weise selbst fremd geworden, weshalb bei einem Thema wie Migration und Flucht von ihr besser Stillschweigen geübt werden sollte?

Wolfgang Ullrich übt in seinem Perlentaucher-Essay »Kunst und Flüchtlinge: Ausbeutung statt Einfühlung« Kritik insbesondere an Werken von Großkünstlern wie Ai Wei Wei und Olafur Eliasson, bei denen er eben jene Empathie vermisst, die angesichts des unübersehbaren Dramas und der humanitären Katastrophe hier gefordert ist. Der Wunderblock nimmt den Faden an dieser Stelle auf und fragt, ob und wie Kunst in einem Gemenge aus Anteilnahme, Kritik, Institutionen, Markt und Trends ihr – humanitäres – Potential entfalten und einen sinnvollen Beitrag zur aktuellen – und wohl noch länger andauernden – Debatte liefern kann. (AR)

Wolfgang Ullrich, geboren 1967 in München, Studium der Philosophie, Kunstgeschichte, Logik/Wissenschaftstheorie und Germanistik. Von 1997 bis 2003 Assistent am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Akademie der Bildenden Künste München, danach Gastprofessuren in Hamburg und Karlsruhe. Von 2006 bis 2015 Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe. Seither freiberuflich tätig als Autor, Kulturwissenschaftler und Berater. Lebt in Leipzig und München. Letzte Veröffentlichungen: Große Sätze machen. Über Bazon Brock, herausgegeben von Wolfgang Ullrich und Lambert Wiesing, München 2015; Siegerkunst. Neuer Adel, teure Lust, Berlin 2016.

Mehr von und über Wolfgang Ullrich gibt es auf seinem Blog Ideenfreiheit.

@